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Das Problem ‘Jesus im Koran’

  • kesfetmekursu
  • 15. März 2023
  • 8 Min. Lesezeit

Bei meiner Auseinandersetzung mit dem Thema “Jesus im Koran” machte ich folgende Beobachtungen:

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1. Der Koran macht einige erstaunliche Aussagen über Jesus: - Er wurde gezeugt durch Einblasung von Gottes Geist in die Jungfrau Maria, ohne irgendwelche männliche Beteiligung (Enbiya 21:91). - Er hielt eine gewichtige Rede bereits als Baby in der Wiege (Meryem 19:30-33). - Er vollbrachte mit Gottes ausdrücklicher Genehmigung umwerfende Wunder (Al-i Imran 3:49; Maide 5:110 und 112-115). - Gott lehrte ihn ‘die Schrift, die Weisheit, die Thora und das Evangelium’ (Al-i Imran 3:48), das heisst, die Gesamtheit der göttlichen Offenbarung. - Seine Abberufung von der Erde resultiert in seiner Erhöhung zu Gott selber (Al-i Imran 3:55; Nisa 4:158). - Dort bei Gott gleicht er Adam in Bezug auf dessen Erschaffung als Gottes Stellvertreter (Al-i Imran 3:59). - Die Nachfolge Jesu resultiert in Überlegenheit gegenüber den Ungläubigen bis zum Tage der Auferstehung (Al-i Imran 3:55). - Wer nicht genau so an Jesus glaubt, wie er im Koran beschrieben wird, fällt unter einen Gottesfluch (Al-i Imran 3:61). Selbst Muhammed wird ermahnt, nicht an der Wahrheit über Jesus zu zweifeln (Al-i Imran 3:60). - Jesus ist ein Zeichen für die Auferstehung der Menschheit (Zuhruf 43:61). - Am Tage des Gerichts wird er Zeuge sein gegen die Leute des Buches bezüglich ihres Glaubens an ihn (Nisa 4:159). - Gott wählt ihn beim Letzten Gericht als einzigen unter den Propheten, um für seine Nachfolger fürbittend einzustehen (Maide 5:109-110 und 117-120). - Jesus werden grossartige Eigenschaften zugestanden: er ist sündlos (Meryem 19:19), bevorzugt vor anderen Propheten (Bakara 2:253), rechtschaffen (Al-i Imran 3:46 und Anam 6:85), gesegnet (Meryem 19:31), ein Zeichen für die Menschheit (Enbiya 21:91 und Meryem 19:21), im Diesseits und Jenseits Gott nahegestellt (Al-i Imran 3:45), hoch angesehen (Al-i Imran 3:45), Gottes Barmherzigkeit gegenüber den Menschen (Meryem 19:21), unfähig etwas zu sagen, das Gott nicht gefällt (Maide 5:116), während seiner gesamten irdischen Existenz mit Gottes Geist gestärkt (Maida 5:110, Bakara 2:87 und 253). - Jesus wird mit unglaublichen Titeln bedacht: ‘Sohn der Maria’ (Maida 5:46, 114, etc.), ‘der Knecht Gottes’ (Meryem 19:30 und Nisa 4:172), ein ‘Prophet’ (Nabi, Maryam 19:30), ‘der Gesandte Gottes’ (Bakara 2:253, Al-i Imran 3:49, 53, Nisa 4:171), der ‘Messias’ (Nisa 4:172, Maida 5:72, etc.), ‘Gottes Wort’ (Al-i Imran 3:45, Nisa 4:171), ‘ein Geist von Gott’ (Nisa 4:171).


2. Aber, der Koran enthält auch einige deutliche Warnungen in Bezug auf Jesus: - Jesus (wie auch seine Mutter) darf Gott nicht gleichgestelt werden (Nisa 4:171, Maide 5:72-75 und 116-118). - Wiederholt wird betont, dass Jesus nicht Gottes physischer Sohn ist (Nisa 4:171, Meryem 19:88-93, Müminun 23:91, Ikhlas 112:1-4).


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3. Die Ausleger des Korans befinden sich daher in einer schwierigen Situation. Sollen sie die positiven Aussagen hervorheben und damit Gefahr laufen, Wasser auf die Mühle der von ihnen abgelehnten christlich-trinitarischen Interpretationen zu leiten, oder sollen sie die positiven Aussagen soweit abschwächen und mit Warnungen versehen, dass dafür keine Gefahr besteht? Dieses Dilemma resultiert darin, dass koranische Aussagen über Jesus nicht neutral behandelt werden können. Dabei verwenden verschiedene Ausleger verschiedene Methoden, um Jesus unter keinen Umständen auf ein zu erhobenes Podest zu stellen: - Wichtige Aussagen über Jesus werden verschwiegen und nicht wirklich ausgelegt. An deren Stelle werden Nebensächlichkeiten ins Zentrum gestellt: Zwar diskutiert das Tefsirwerk ‘Kuran Yolu’ im Zusammenhang mit Enbiya 21:91 – ‘Und (weiter Maria) die sich keusch hielt. Da bliesen wir ihr Geist von uns ein und machten sie und ihren Sohn zu einem Zeichen für die Menschen in aller Welt (al-`aalamuun)’ – ausführlich den Begriff ‘Keuschheit’, aber die Bedeutung von Themen wie ‘Einblasung von Gottes Geist’ und ‘Zeichen für die Menschheit’ werden nicht wirklich behandelt.1 - Positive Aussagen über Jesus werden hervorgehoben, aber sogleich auch wieder heruntergespielt: Obwohl Sayyid Qutb ‘Jesu Geburt für den menschlichen Verstand’ als ‘das grösste aller Wunder’ akzeptiert, fügt er schnell hinzu, dass für Gott, der nicht durch menschliche Begrenzungen eingeschränkt ist, dieses Wunder nichts Aussergewöhnliches darstellt.2 Der Koran mache dann auch in seiner Darstellung dieses Ereignisses deutlich, dass sich Jesus in keiner Weise von anderen Propheten abhebe, und das übernatürliche Geschehen nichts anderes als ein Ausdruck des natürlichen und normalen Fortpflanzungswunders ist.3 - Positive Aussagen über Jesus werden bis zu einem gewissen Punkt erörtert, aber dann werden sie als für den menschlichen Verstand als unverständlich deklariert, oft mit einer Warnung, dass weitere Nachforschungen den Gläubigen ernsthaften Gefahren aussetzen könne, versehen: Sayyid Qutb stellt unter den Auslegern eine bewundernswerte Ausnahme dar, indem er positive Aussagen über Jesus mit grösserer Sorgfalt behandelt als viele seiner Berufsgenossen. Er beobachtet zum Beispiel zur Empfängnis der Maria, dass ‘dieses Ereignis ... keine Wiederholung in der Menschheitsgeschichte’4 findet. Allerdings fügt er dann die Warnung an, dass die Menschheit die Erschaffung von Jesus durch Einblasung von Gottes Geist nie wirklich erfassen kann: ‚Dies ist ein Geheimnis, das für die menschliche Vernunft [immer] unverständlich bleiben wird. Wir können es nicht verstehen, weil es uns nichts angeht‘5 Damit ist für Qutb das so spannend eingeleitete Thema erledigt.6

Das Zusammenspiel der oben erwähnten Vorgehensweisen im Zusammenhang mit der Behandlung von Jesus durch Koran-Interpreten führt zu einer sehr negativen, schweren Jesus-Darstellung. Jede positive Erwähnung im Koran wird in den Tefsirwerken -sozusagen als automatischer Reflex - heruntergespielt und mit der Warnung versehen, daraus auf keinen Fall zuviel abzuleiten. Was mich besonders erstaunte war die immer wiederkehrende Warnung, sich nicht weiter mit der Materie im Zusammenhang mit Jesu’ Leben und Tun auseinanderzusetzen, da dies zu Irrlehren, ja gar zum Verlust des Verstandes führen könne. Solches Abraten von vertiefter Auseinandersetzung mit dem koranischen Material über Jesus wird mit der Behauptung, dass solche Beschäftigung für das Glaubensleben absolut überflüssig, ja eigentlich nur schädlich ist, begründet.7 In die Kategorie der für die Menschheit allgemein unverständlichen Begebenheiten im Leben Jesu gehören je nach Autor seine ausserordentliche Geburt, die Art, wie er von dieser Erde abberufen wird, seine Aufgaben im Zusammenhang mit dem letzten Gericht und die auf ihn bezogenen Beschreibungen wie „Wort Gottes“, „ein Geist Gottes“ oder „Zeichen der Letzten Stunde“. Mit anderen Worten, der Grossteil der Beschreibungen Jesu im Koran fällt für Ausleger in die Kategorie ‘für Menschen nicht verständlich’.


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4. Koranische Aussage und Tefsir-Auslegung stimmen nicht überein: Ein solcher von Angst geprägter Zugang zum Leben Jesu ist für den interessierten Leser ganz und gar unbefriedigend. Die Frage, warum Gott ausgerechnet im Zusammenhang mit Jesus auf solch wundervolle, aber für den Gläubigen unverständliche Weise handelt, sucht eine befriedigende Antwort. Die Notwendigkeit, eine Antwort zu finden, wird noch verstärkt durch die wiederholte Hervorhebung, dass das, was Gott mit Jesus auf wundervolle Weise tat, zum Zeichen für die Menschheit und als Grundlage für den rechten Glauben gedacht ist: Die ausserordentliche Empfängnis ('Da bliesen wir ihr Geist von uns ein') macht Maria und Jesus 'zu einem Zeichen für die Menschen in aller Welt (al-`aalamuun)' (Enbiya 21:91). Die Wundertaten, die Gott Jesus ausführen lässt, sind Ausdruck von Gottes 'Gnade' und 'klare Beweise' für die Ungläubigen (Maide 5:110) und ein 'Zeichen' für die Gläubigen (Al-i İmran 3:45). Jesu’ Abberufung von der Welt und seine Erhöhung 'vor Gott' muss geglaubt werden und wird Thema beim Letzten Gericht sein (Nisa 4:159). Weil Jesus ein 'Vorzeichen der [letzten] Stunde' ist, sollen Muhammeds Zeitgenossen und die Leser des Korans 'ja nicht im Zweifel über' die allgemeine Auferstehung sein, 'Das ist ein gerader Weg' (Zuhruf 43:61). Die Titel ‘Wort Gottes’ und ‘ein Geist Gottes’ werden im Zusammenhang mit der Warnung, über Gott nichts Falsches auszusagen, erwähnt (Nisa 4:171). Mit anderen Worten, vieles, das von Koran-Kommentatoren im Zusammenhang mit Jesus als ‘für Menschen unverständlich’ kategorisiert wird, wird im Koran als ‘deutliches Zeichen’ und als ‘Glaubensgrundlage für Akzeptanz im Paradies’ beschrieben. Offensichtlich besteht ein tiefe Kluft zwischen dem, was der Koran aussagen will und dem, was Kommentatoren als Aussage zulassen. Anstatt jedes unangenehme Thema mit dem Verweis ‘nur Gott weiss um die Bedeutung’ zu schliessen, müsste, um dem Koran gerecht zu werden, der Frage nachgegangen werden, was Gott dem Gläubigen durch das Zeichen mitteilen will und was genau geglaubt werden muss, um Eingang ins Paradies zu gewinnen. Leider wird man den Eindruck, dass die Ausleger ihren Lesern im Zusammenhang mit Jesus ‘heilsnotwendige’ Informationen vorenthalten, nicht los.


Schlussfolgerung: Die dargelegte Diskrepanz zwischen den Aussagen über Jesus im Koran und in den Tefsir-Werken gibt Anlass zum Verdacht, dass die verwendeten Auslegunsmethoden bei der Behandlung von Jesus im Koran der wirklichen Absicht der koranischen Aussagen nicht gerecht werden. Für mich besteht kein Zweifel, dass, um der koranischen Jesus-Darstellung wirklich Genüge zu tun, neue Wege der Koranauslegung gefunden werden müssen.




1 Kur'an Yolu Tefsiri, Band: 3 s. 698, in https://kuran.diyanet.gov.tr/tefsir/Enbiy%C3%A2-suresi/2574/91-ayet-tefsiri (19/01/2023).

2 ‘To the human mind, Jesus’s birth remains the greatest of all miracles. According to God’s will, which is free of all restrictions, it is nothing out of the ordinary.’ (Sayyid Qutb, In the Shadow of the Quran, Vol.2, s. 71.).

3 ‘The central theme of the sūrah, as already pointed out, revolves around the issue of the oneness of God, i.e. tawĥīd. The story of Jesus and the other accounts related to it reinforce this concept as they refute and completely exclude the idea of offspring or partners as far as God is concerned. The sūrah rejects these notions as false and naïve, and presents the birth and life of Maryam and Jesus in such a manner that leaves no room for doubting his full humanity or that he was one of God’s messengers; whatever applies to them applies to him. It explains the supernatural phenomena that accompanied the birth and life of Jesus in simple, clear and reassuring terms. The whole issue is presented as a natural and normal one that should raise no confusion or suspicion. It simply says: “The case of Jesus in the sight of God is the same as the case of Adam. He created him of dust and then said to him, Be, and he was.” (Verse 59) Believing hearts find certainty and peace in these words, and wonder how this evident concept could ever have been shrouded in doubt and confusion. (Sayyid Qutb, In the Shadow of the Quran, Vol.2, s. 62).

4 Sayyid Qutb, In the Shadow of the Quran, Vol.2, s. 69.

5 Sayyid Qutb, In the Shadow of the Quran, Vol.2, s. 72.

6 ‘Was this breathing of the spirit what is described as the word? Or, was the word the line God’s will has taken? Or, does the word mean the command “be”, which may be taken as it is or may express that God’s will has chosen something in particular? Was the word Jesus, or is his existence derived from it? The pursuit of all such questions can only result in creating doubts. The only true conclusion is that God willed to initiate life in a manner which had no parallel. His unrestricted will accomplished such an initiation of life through a breathing of His spirit, the nature of which remains unknown to us while we understand its effects. There is no reason for us to understand its nature because such an understanding does not add to our ability to discharge our mission on earth, since to initiate life is not part of our appointed task. Viewed in this manner, the whole question becomes easy to understand and raises no doubts in our minds.’ (Sayyid Qutb, In the Shadow of the Quran, Vol.2, s. 72).

7Im Zusammenhang mit der Erwähnung von Jesu Abberufung von der Erde (Al-i Imran 3:55) macht Qutb folgende Beobachtung: ‘How Jesus was gathered and how he ascended to God are matters which lie beyond our human perception. They are unknown except to God. To try to pursue these matters is of no use whatsoever in respect of faith or its implementation. Those who pursue them will inevitably end up more confused, struggling with complicated and endless arguments, gaining no certainty or satisfaction whatsoever. For the whole matter is part of God’s own knowledge. (Sayyid Qutb, In the Shadow of the Quran, Vol.2, s. 81).

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