Wo ist ‘vor Allah’?
- kesfetmekursu
- 28. Apr. 2023
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Okt. 2024
Wir versuchen die Bedeutung einer zentralen Aussage über Jesus in Al-i Imran 3:59 zu

verstehen. Darin werden die beiden Propheten Adam und Jesus verglichen. Muslimische Kommentatoren sehen darin eine Korrektur der christlichen Auffassung von Jesus – seine Geburt entspricht der Erschaffung des Urmenschen Adams, deshalb sind die Naturen beider Männer nicht göttlich. Muslimische Autoren vergleichen also die irdische Erzeugung der beiden Männer und kommen zum Schluss, dass die Zeugung von Adam noch etwas ausserordentlicher als diejenige von Jesus war. Da der Vergleich in Al-i Imran 3:59 mit Gottes Befehl ‘Sei!’ [kun], und da war er [fe-yekûn(u)]’ in Verbindung steht, haben wir die Bedeutung dieser Wortgruppe im Koran untersucht. Dabei fanden wir die folgenden drei Anwendungsbereiche: (i) die Erschaffung Adams (ein Vers: Al-i İmran 3:59); (ii) Jesu irdische Geburt (drei Verse: Bakara 2:117; Al-i İmran 3:47 und Meryem 19:35), allerdings ohne irgendeinen Vergleich mit der Erschaffung Adams; (iii) Auferweckung der Menschen beim letzten Gericht (Enam 6:73; Nahl 16:40; Yasin 36:82 und Mümin 40:68), drei dieser Verse mit explizitem Vergleich mit der ursprünglichen Schöpfung.
Bei seiner Empfängnis und Geburt (im Folgenden abgekürzt als ‘E-Gʼ) gleicht Jesus nur sehr beschränkt dem neu erschaffenen Khalifen Adam. Die Auferweckung der Menschen am Ende der Weltgeschichte wird im Koran aber ausdrücklich mit der ersten Schöpfung verglichen (Yunus 10:4). Der Vergleich in Al-i Imran 3:59 könnte also durchaus die Auferstehung (nicht die Geburt) Jesu mit der Erschaffung Adams betreffen. Im vorliegenden Blog wenden wir uns der Grammatik und dem Kontext von Al-i Imran 3:59 zu, um zu entscheiden, ob es sich beim Vergleich in diesem Vers eher um Jesu Geburt oder Jesu Auferstehung handelt.
‘inda ein Adverb des Ortes
Die Entscheidung, ob es sich im Vergleich in Al-i İmran 3:59 um Jesu ‘E-Gʼ, oder um seine Auferstehung handelt, hängt offensichtlich auch von dem Adverb ʻʻindaʼ ab, das für gewöhnlich als ʻvor Gottʼ übersetzt wird.1 Dabei handelt es sich bei ʼinda ʼvorʼ um ein Adverb des Ortes oder Rangs.2 ʼDas Wort drückt Nähe aus; es wird manchmal im Bezug auf einen Ort, manchmal im Bezug auf eine gefühlte Wahrheit gebraucht. ... Manchmal wird das Wort auch für Position und Rang gebraucht.ʼ3 Jesu Zustand ʻvor Gottʼ kann also sowohl (i) einen spezifischen Ort, (ii) einen spezifischen Rang, (iii) eine spezifische Position oder (iv) eine gefühlte Wahrheit ausdrücken.
Es ist in einer Position ʻvor Gottʼ, in der Adam geschaffen wurde, noch bevor er auf die Erde hinabsteigen musste. Diese Position ʻvor Gottʼ zeichnete sich dadurch aus, dass es sich um eine andere Realität als diejenige auf der Erde handelte, eben in unmittelbarer Nähe zu Gott: Gott selbst formt Adam aus Erde; Gott selbst bläst Seinen eigenen Geist in Adam; Gott persönlich lehrt Adam die Namen aller Dinge und übergeht dabei die auf der Erde sonst übliche Überbringungsrolle von göttlichen Botschaften der Engel; Gott fordert eigenhändig den Gehorsam der Engel und Iblis gegenüber Adam durch das äussere Zeichen der Niederwerfung ein; und Gott selbst lädt Adam und seine Frau zum Genuss der Früchte im Garten ein (z.B. Bakara 2:30-35). Gott tut dies alles selbst, ohne die Mithilfe von Engeln oder irgendwelcher anderer Mittler, ganz im Gegensatz zur erlebten Realität auf der Erde. Weil das Geschehen ʻvor Gottʼ statt findet, muss Gott keine Distanz überwinden um die Menschen zu erreichen. Es braucht keine Übersetzung von der Gottessphäre in die menschliche Realität. Der Kontakt zwischen Gott und Mensch ist unmittelbar. Die Erschaffung Adams findet sowohl im geographischen Sinne als auch im Bezug auf seine Position als Stellvertreter Gottes ‘vor Gottʼ statt. Bestimmt kommt dazu auch eine gefühlte Realität ins Spiel. Erst nach seinem Ungehorsam gegenüber Gott muss Adam von seinem Platz ‘vor Gottʼ auf die Erde hinabsteigen:

‘Doch Satan ließ sie dort straucheln und brachte sie aus dem Zustand heraus, in dem sie waren. Da sprachen Wir: ‘Geht (vom Paradies) hinunter! Der eine von euch sei des anderen Feind. Und ihr sollt auf der Erde Wohnstätten und Versorgung auf beschränkte Dauer haben.’’ (Bakara 2:36; M.A. Rassoul).
Adams ursprüngliche Erschaffung findet also tatsächlich ‘vor Gottʼ statt, sie erfüllt das ganze Bedeutungsspektrums des Wortes ‘‘inda’.
In Al-i İmran 3:59 wird auch für Jesus explizit ein Zustand ‘vor Gottʼ betont und dieserZustand wird mit Adams Zustand nach seiner Schöpfung, die ja ‘vor Gott’ stattgefunden hat, verglichen: ‘Jesus ist vor Gott wie Adamʼ (Azhar). Adams Aufenthalt ʻvor Gottʼ wird vorausgesetzt ohne spezielle Erwähnung im Vers. Es geht vor allem um Jesu Zustand ʻvor Gottʼ. Die zuletzt erwähnte Station in Jesu Lebenslauf ist seine ʻErhebung zu Gottʼ (siehe Al-i İmran 3:55). Die kurze Unterbrechung in der Erzählung über Jesu Leben zwischen Al-i İmran 3:55 und 3:59 deutet nicht einen Wechsel im Thema an, sondern ist bloss ein kontext-motivierter, kleiner Einschub, eine kurze Abschweifung vom Hauptthema. Die Reaktion der Menschen auf Jesu Abberufung von der Erde und Erhöhung zu Gott motiviert den kleinen Exkurs über das Schicksal von Gläubigen und Ungläubigen: Einige reagieren mit Unglauben, andere mit Glauben auf Jesu Abberufung und Erhebung. Diese Reatktion hat Auswirkungen im Diesseits und Jenseits: Unglaube wird bestraft (3:56) und Glaube belohnt (3:57). Nach diesem kleinen Exkurs kommt Muhammed in 3:58 bereits wieder auf das in 3:33-55 behandelte Thema zurück: ʻDies verlesen wir dir von den Versen und der weisen Mahnungʼ (Al-i İmran 3:58). Das Thema wird in Vers 59 genau an der Stelle aufgenommen, an dem es in Vers 55 aufgehört hatte: ‘(Damals) als Allah sagte: ‘Jesus! Ich werde dich (nunmehr) abberufen und zu mir ... erheben und rein machen ...ʼ’ (3:55). Und 3:59 erklärt, in welchem Zustand sich Jesus in dieser erhobenen Position befindet:ʻ… Jesus ist ... vor Allah gleich wie Adamʼ. Lassen wir den Einschub (3:55b-58) beiseite, liest sich der Text natürlich:

‘(Damals) als Allah sagte: "Jesus! Ich werde dich (nunmehr) abberufen und zu mir (in den Himmel) erheben und rein machen, so daß du den Ungläubigen entrückt bist". ... Wahrlich, Jesus ist vor Gott wie Adam, den Gott aus Staub erschuf, als er sprach: "Er sei!" und er war.’ (Al-i Imran 3:55a+59)
Bei einer solchen Lesung betrifft der Vergleich zwischen Jesus und Adam nicht Jesu Geburt, sondern vielmehr Jesu Zustand nach seiner Abberufung von der Erde zu Gott – eben, sein Zustand ‘vor Gott’. Zu Recht wird von muslimischen Interpreten darauf hingewiesen, dass der Ort ‘vor Gottʼ schwierig zu lokalisieren ist, und dass schliesslich jedes Geschehen auf Erden als ‘vor Gott’ geschieht – im Sinne von ‘in der Sicht Gottes’ (so Asad). Viele gehen davon aus, dass es sich bei ‘vor Gott’ um eine erhöhte Position in Gottes Augen handeln muss, eher als um den geographischen Standort von Gott, der ja das ganze Universum umfasst und nicht in einem exakten geographischen Punkt lokalisiert werden kann. Trotzdem ist vom Zusammenhang und der Grammatik klar, dass es sich dabei nicht um einen normalen irdischen Ort handeln kann, denn Jesus hat ja soeben das irdische Leben hinter sich gelassen und wurde von Gott ʻzu Gott (zu Mir)ʼ (in den Himmel4; so Paret) erhoben oder erhöht (Al-i İmran 3:55). ʻZu Gottʼ erklärt ja gerade, weshalb Jesus nicht weiterhin sichtbar und physisch unter den Menschen weilte. Der Ausdruck beschreibt, ‘wohinʼ sich Jesus von der Erde entfernt hat, ob das dann nur seinen Geist oder auch seinen Körper miteinschliesst. Was immer gemeint sein mag mit ʻzu Gottʼ – Ort, Rang, Position oder gefühlte Wahrheit – ʻvor Gottʼ ist die korrekte Beschreibung dieses ausserordentlichen Zustands Jesu nach seiner Abberufung. Jesu Leben auf der Erde wurde damit zu einem Ende gebracht, jetzt befindet er sich eben in einem Zustand ‘vor Gottʼ. Auch für Vertreter der Ansicht, dass es sich bei dem Ort, zu dem Jesus erhöht wurde, nicht um den Himmel, sondern eher um eine ʻgeistliche Sphäreʼ5 handelt, ist klar, dass in 3:55 nicht von Jesu normaler Existenz auf Erden die Rede ist.
Ganz abgesehen davon, ob es sich bei Jesu Erhöhung ʻzu Gottʼ und seinem Aufenthalt ʻvor Gottʼ um eine körperliche oder bloss geistliche Erfahrung im Himmel, einer erhöhten Position in den Augen Gottes oder irgend eine andere geistliche Sphäre handelt, können wir also auf Grund von Al-i İmran 3:55 mit Sicherheit sagen, dass sich Jesus nach seiner Abberufung von dieser Erde in einem Zustand ʻvor Gottʼ befunden hat.
Wie verhält es sich in dieser Beziehung mit der ‘E-Gʼ von Jesus? Fand sie auch ‘vor Gottʼ statt? Interessanterweise ist bei der irdischen Zeugung und Geburt von Jesus nie davon die Rede, dass diese ‘vor Allahʼ stattgefunden habe. Vielmehr wird bei der Erzählung dieser Geschehen immer Distanz zu Gott ausgedrückt: bei der Empfängnis kommt der Engel zu Maria an einen geographischen‘Ort im Ostenʼ auf dieser Erde, an den sie sich zurückgezogen hatte (Meryem 19:16). Die Ausleger nehmen an, es handle sich entweder um ein Zimmer im östlichen Teil des Tempels in Jerusalem oder um das Haus ihrer Eltern.6 Das Kommen des Engels wird mit den folgenden Worten beschrieben: ʻUnd wir sandten unseren Geist zu ihrʼ (Meryem 19:17). Gott überwindet die Distanz zu Maria durch das Senden eines Engels, wie er auch zu anderen Menschen gekommen ist, ohne dass diese sich zuvor ʻzuʼ und damit ʼvorʼ Gott begeben mussten. Ausleger gehen davon aus, dass der Engel auch den Geist Gottes mit zu Maria brachte7. Wieder überwindet Gott die Distanz zwischen sich selbst und Maria durch die Mittlerschaft des Engels. Für die Geburt zieht sich Maria noch weiter zurück, unter eine Palme an einem 'entfernten' oder 'entlegenen' Ort auf Erden

(Meryem 19:22). Der Verlauf der Geburt ist schwierig und Maria fühlt sich alles andere als nahe bei Gott, möchte sie doch sterben (Meryem 19:23) und so von ihrem irdischen Leiden befreit werden und hoffentlich eben zu Gott gehen. Es ist genau die gefühlte Absenz von Gott, die sie zu diesem Wunsch bewegt. Es scheint die Stimme ihres Kindes zu sein, die sie auf die von Gott bereitgestellte Stärkung aufmerksam macht und sie für die Konfrontation mit den Leuten ihrer Umgebung vorbereitet (Meryem 19:24ff.). Jesu Erzeugung als Mensch ist ausserordentlich, aber sie findet auf dieser Erde und weder im ʻgeographischenʼ noch ʻgefühltemʼ Sinne ‘vor Gottʼ statt. Auf Grund von Enbiya 21:91 könnte man sich höchstens im Bezug auf Marias Position fragen, wie nahe zu Gott ihr aufopfernder Gehorsam sie erhöht habe. Auch für Jesus könnte auf Grund des‘E-Gʼ Ereignisses höhstens eine rangmässige Position ‘vor Gottʼ beansprucht werden: er wird nach der Geburt sowohl ʻim Diesseitsʼ als auch ʻim Jenseits angesehen (wadschieh) seinʼ und ʻeiner von denen, die (Allah) nahestehen’ (Al-i İmran 3:45). Diese rangmässige Position mit dem Zustand Jesu ‘vor Gottʼ in Al-i İmran 3:59 zu identifizieren scheint aber gegenüber der viel natürlicheren Möglichkeit, eröffnet in 3:55, sehr an den Haaren herbeigezogen zu sein. Es ist viel natürlicher, den Zustand Jesu ‘vor Gott’ mit der Beschreibung seiner Existenz nach seiner Abberufung von der Erde und Erhöhung zu Gott zu identifizieren.
Wie die obige Diskussion zeigt,ist es nicht die Geburt Jesu, die im ‘Adamischen’ Sinn ‘vor Gottʼ stattfindet. Es ist viel überzeugender davon auszugehen, dass seine Position nach dem Abgang von dieser Erde und seiner Erhöhung zu Gott als vergleichbar mit Adams Zustand ʼvor Gottʼ bei seiner Erschaffung beschrieben wird.
1 Oder ʻvor Allahʼ. So Ahmediyya, Paret, Rassoul, Azhar, Sher Ali/Zimmermann, Sadr-Ud Din, und Fatima Grimm/Ali Ünal; Zaida, Nadeem Elyas/Frank Bubenheim wählen ʻbei Gottʼ; Asad übersetzt ʻin der Sicht Gottesʼ.
2 Siehe Kuranmeali.org, https://www.kuranmeali.com/Kokler.php?kok=%D8%B9%20%D9%86%20%D8%AF&sayfa=1 (besucht, 24/05/2022). Obwohl ʼinda theoretisch auch ein Adverb der Zeit sein könnte, macht dies im vorliegenden Fall im Bezug auf Gott keinen Sinn.
4 Gemäss Hadith befindet sich Jesus im 3. Himmel: "That the Prophet ... talked to them about the night of his Ascension to the Heavens. He said, "(Then Gabriel took me) and ascended up till he reached the second heaven where he asked for the gate to be opened, but it was asked, ʼWho is it?ʼ Gabriel replied, ʼI am Gabriel.ʼ It was asked, ʼWho is accompanying you?ʼ He replied, ʼMuhammad.ʼ It was asked, ʼHas he been called?ʼ He said, ʼYes.ʼ When we reached over the second heaven, I saw Yahya (i.e. John) and Jesus who were cousins. Gabriel said, ʼThese are John (Yahya) and Jesus, so greet them.ʼ I greeted them and they returned the greeting saying, ʼWelcome, O Pious Brother and Pious Prophet!;ʼ " (Bukhari 3430 in https://sunnah.com/bukhari:3430 (04/08/2022)).
5 Jesus ʻremains alive “with God” in a spiritual realm from where he will descend at the end of time in an Islamic version of the Second Comingʼ (Todd Lawson, Crucifixion, ss.2-3).
6 Kurʼan Yolu Tefsiri Cilt: 3 Sayfa: 596 in https://kuran.diyanet.gov.tr/tefsir/Meryem-suresi/2266/16-2 (besucht 19/10/2022).
7 ‘Neticede Allah melek vasıtasıyla ruhu üfleyince Meryem hamile kaldı (krş. Enbiyâ 21/91; Tahrîm 66/12).’ (Kur'an Yolu Tefsiri Cilt: 3 Sayfa: 596 in https://kuran.diyanet.gov.tr/tefsir/Meryem-suresi/2272/22-ayet-tefsiri (besucht: 20/02/2023)).

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